Handeln unter dem Gesetz - in der Liebe als neue Schöpfung

Als Luther in den frühen Tagen der Reformation kräftig kämpfte, erklärte er mit Nachdruck, daß er nicht gegen die Lebensführung irgendeines Menschen kämpfe; vielmehr galt sein Widerstand den falschen Lehren der Kirche. Luther hätte seine Angriffe gegen Tetzel persönlich richten und seine Energie dazu verwenden können, Tetzels unmoralisches Leben ans Licht zu ziehen. Immerhin hatte Tetzel zwei uneheliche Kinder. Stattdessen griff Luther die falsche Lehre vom Ablaß an. Tetzel persönlich wurde später von seiner Kirche selber entlarvt und fiel in Ungnade. Aber hatte das irgendeine Wirkung auf die Kirche als ganze? Kaum - aber der Angriff Luthers auf den Ablaß hatte es. Für uns ist es ein Glück, daß Luther wußte, wohin er seine Angriffe richten mußte. Heute besteht die Gefahr, daß die gute Lebensführung mehr oder weniger als das zentrale Thema des christlichen Lebens gilt. Auch Muslime werden das Christentum und seine Wahrheit an diesem Maßstab messen, obwohl sie behaupten, daß auch dann, wenn nicht ein einziger wahrhafter Muslim auf der gesamten Erde zu finden sei, der Islam die wahre, von Gott geoffenbarte Religion bleiben würde. Wahrscheinlich beurteilen sie das Christentum nach einem Maßstab, der sich von ihrem eigenen unterscheidet, weil die Christen selber mit Nachdruck und Ausdauer von ihrem guten Leben sprechen.

Unser christliches Leben, wie wir es in unseren Taten zum Ausdruck bringen, hat drei klar definierte Beziehungen: Verhalten, das sich auf das Gesetz bezieht, auf die Liebe und auf die neue Zeit.

Weil wir dieses Neue des Lebens haben, weil wir eine neue Schöpfung in Christus sind, möchten wir diese drei Beziehungen zur Ehre Gottes ausleben. Sie sind in Wirklichkeit eine Einheit in unserem Leben. Nur so lange wir über sie nachdenken, können wir sie trennen. Ich kann das an einem Beispiel illustrieren. Unser Körper funktioniert als Einheit, aber um den Körper wirklich zu verstehen, studiert man jedes einzelne Organ für sich und erst dann in Beziehung auf das Ganze. Wenn wir wirklich verstehen wollen, was christliches Leben ist, sind wir genötigt, die verschiedenen Teile und ihre Beziehungen zueinander einzeln zu studieren. Das bedeutet nicht, daß man einen Teil vom anderen trennen kann oder daß wir in unserem täglichen Leben sie bewußt in einer bestimmten Situation auseinander halten können. Ich weiß wohl, was die Funktion meines Herzens ist und was meine Lungen tun, aber normalerweise denke ich nicht getrennt über sie nach, denn sie arbeiten zusammen. So verhält es sich auch mit dem christlichen Leben.

Sie haben vielleicht von verschiedenen Menschen gehört, von denen man berichtet, sie seien zu Christus gezogen worden, weil sie die guten Taten dieses oder jenes Christen gesehen haben. Also habe Gott diese Leute nicht gewonnen durch das Hilfsmittel des gepredigten Wortes, sondern durch das Leben einiger seiner Leute. Aber wenn man daraus folgert, Mission sei ohne Verkündigung möglich, ist das ein schwerer Irrtum. Die Weigerung, das Evangelium zu predigen, ist eindeutig Ungehorsam gegenüber Gottes großem Auftrag.

Wenn man die Bekehrung unter den erwähnten Umständen einigermaßen sicher prüfen kann, dann bedeutet das nur, daß Gott in seiner unbegrenzten Freiheit den Ungehorsam seines Dieners verwendet hat, um sein eigenes Ziel zu erreichen. Sie möchten den Muslim evangelisieren. In dieser Beziehung möchten Sie gerne wissen, wie das Tun, d.h. die guten Taten Ihres christlichen Lebens damit verbunden sind.

Wir betrachten zunächst das christliche Leben unter dem Gesetz. Das, was Paulus in Römer 2, 14-15 sagt, daß die Juden das Gesetz in ihren Büchern und die Heiden es in ihren Herzen geschrieben haben. Damit meinen wir einfach:

Es gibt in der natürlichen Ordnung ein gewisses Minimum an ethischen Forderungen, das von den Menschen in jeder Nation unter dem Himmel gefordert wird. Manchmal ist dies Gesetz geschrieben, manchmal ungeschrieben. Niveau und Interpretation sind zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen verschieden. Offenbar fielen einige der Christen im Neuen Testament unter diese Mindestforderung und mußten deswegen getadelt werden. Die Reformatoren sehen in den 10 Geboten eine Kurzfassung des Gesetzes, die nötig war für die natürliche Ordnung, so wie die Juden sie für ihren Staat auch akzeptiert hatten.

Aber neu war, daß sie das Gesetz nicht mehr erfüllt sehen sollten, um Gerechtigkeit vor Gott zu erwerben, sondern daß man damit eine Pflicht erfüllte, die allen Menschen obliegt, Christen und Nichtchristen, und auf diese Weise versucht, der Ausbreitung des Evangeliums nicht im Weg zu stehen.

Von Anfang an hat das Christentum den Leuten auf der Schattenseite des Lebens Eindruck gemacht. Die, die versagt hatten, die ihr Leben in ein großes Durcheinander gebracht hatten, all diese Leute konnten ja wohl wissen, daß sie im Elend steckten. Die Frommen, die Angesehenen, die guten Leute auf der anderen Seite fanden es viel schwieriger, sich selbst als Schafe zu erkennen, die in die Irre gegangen waren. "Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist."

Was die Welt dann sah, war eine großartige sittliche Erneuerung. Aber was passiert nun, wenn ein christlicher Verkünder Christentum als sittliche Erneuerung vorstellt (das ist ein Ausdruck, der so unbiblisch ist wie nur möglich)? Der Unterschied ist ein sehr feiner. Immer wieder kann man die angesehenen Hindus oder Muslime sagen hören, "Geh doch mit dem Christentum zu den Parias, den Kastenlosen, den Mißratenen und den Sündern - sie brauchen es. Es wird ihnen helfen." Sie werden Ihnen sogar Geld geben, diesen Unglücklichen zu helfen. Aber für sie selber?- Danke, nein. Sie brauchen es nicht. Der Missionar ist dann verdutzt und fragt sich, was er nun diesem Muslim sagen soll, um ihm klarzumachen, daß er das Evangelium genauso braucht wie ein Kastenloser.

Der einzige Wert, den das Halten des Gesetzes für die Predigt hat, besteht darin, daß Sie nicht für Ihre eigene Arbeit ein Hindernis sind. Zweitens betrachten wir die christliche Lebensführung unter dem Gebot der Liebe.

Das Gesetz verlangt Aufrichtigkeit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit in Ihren Beziehungen zu allen Menschen. Christus fordert, daß Sie als Jünger Ihr Verhalten auch in Einklang bringen mit der Liebe. Mit anderen Worten: Sie sollen viel mehr Gutes tun, als das Gesetz von Ihnen fordert.

Muslime werden Ihnen immer wieder sagen, daß die Christen gute Leute sind und gute Werke tun. Die Frage ist nun, ob man sich an diesem falschen Lob wärmen und "über Kraft des Geistes, der in Dir wirkt" sprechen soll - oder wollen Sie dem Muslim die realistische, nüchterne Wahrheit sagen, nämlich daß Sie wie er in einer solch schwierigen Lage sind, daß Sie selbst, auch wenn Sie es wollten, die Forderungen des Liebesgebotes nicht wirklich erfüllen könnten. Sie können das sicherlich nicht, wenn im Hintergrund Ihre Leistungen stehen, selbst wenn man behauptet, daß sie durch die Kraft Gottes in Ihnen zustande gekommen sind.

Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Wenn Sie Christ sind, dann wirkt die Kraft des Heiligen Geistes in Ihnen. Aber das wissen Sie ja aus dem Glauben und nicht durch das Sehen. Und ehe der Muslim Ihren Glauben nicht hat, können Sie nicht erwarten, daß er irgendein Wirken des Heiligen Geistes erkennt oder sieht. Je ernsthafter Sie versuchen, dem Liebesgebot zu gehorchen, desto ehrlicher werden Sie ein demütiger Mensch sein, weil Sie sich dann immer über Versagen und begrenzte Fähigkeiten klar sind.

Nun betrachten wir drittens die christliche Lebensführung unter dem Aspekt der neuen Zeit. Hier geht es um ein Paradox und eine Spannung. Wenn wir Christus annehmen würden als einen Propheten, wie es die Muslime tun, oder, wie einige Hindus es tun, als einen Halbgott (avatar), dann wäre die Spannung aufgelöst. Gott würde im Himmel bleiben, und wir könnten in einer toten Isolation bleiben auf unserer Erde sowohl in unseren schlechten als auch in unseren guten Taten. Aber diese Tatsache unseres Glaubens - die beide Naturen in Christus vereinigt - verändert alles, was wir über das christliche Leben zu sagen haben.

Nun wollen wir wieder unseren Herrn anschauen. So viele christliche Führerpersönlichkeiten übergehen die Tatsache, daß er von den zeitgenössischen religiösen Führern immer wieder angegriffen wurde wegen seines Verhaltens. Man nannte ihn einen Fresser und Weinsäufer. Er wurde getadelt, weil er ein Freund der Zöllner und der Sünder war. Er wurde mehr als einmal angeklagt, weil er den Sabbat gebrochen hatte. Es hieß, er sei ohne Respekt gegenüber den religiösen Autoritäten. Man nannte ihn einen Gotteslästerer. Diese Liste könnte man noch verlängern, aber es sollte genug sein, Sie daran zu erinnern, daß die Spannung im Leben unseres Herrn als wahrer Gott und wahrer Mensch zu sehr ernsthaften Folgen auch bei der Frage der Verhaltensweise führte. All diese offenbaren Regelwidrigkeiten des Verhaltens waren polemische Akte, die sich auf das neue Zeitalter bezogen; nur die, die Augen des Glaubens haben, können ihren Sinn erkennen und Gott dafür preisen. Andere, auch Muslime, stolpern darüber.

Wenn Sie Christus darstellen als das beste Beispiel der Tugend und nicht "als das Zeichen, dem widersprochen werden wird" (Lukas 2,34), dann tun Sie dem Muslim einen sehr schlechten Dienst, denn seine Reaktion wird unweigerlich sein entweder, daß er ihn vergleicht mit Mohammed (dann wird Christus nach muslimischer Mentalität nur einen schwachen zweiten Platz bekommen) - oder eine scharfe und höhnische Kritik des Verhaltens Christi, und zwar gerade an den Punkten, wo es sich besonders prägnant auf das neue Zeitalter bezieht, was der Muslim gar nicht verstehen kann.

Natürlicherweise ist jede Situation, die sich auf das neue Zeitalter bezieht, mit Spannung geladen. Deshalb auch die paradoxe Lage, in der Sie selber stehen. Deshalb können Sie Ihr Leben in Beziehung auf das Gesetz so tadelfrei wie Paulus leben und in Beziehung auf das Liebesgebot so ernst, wie Sie können, und doch, wenn die Leute Sie umbringen, werden Sie meinen, Sie tun Gott einen Dienst (Joh 16,2).

Sie möchten also den Muslim erreichen. Entweder nehmen Sie den pharisäischen Standpunkt ein, daß man durch gute Taten, dadurch, daß man eine liebende Verhaltensweise hat, andere nötigen kann, Gott die Ehre zu geben (dann werden Sie das Gute so öffentlich wie möglich tun, damit es die Leute auch sehen), oder Sie nehmen den Standpunkt unseres Herrn ein, daß das Gute in diesem Sinn nicht endgültig ist und daß Sie durch die Leistung dieser Taten nur so weit kommen, daß Sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich selber richten, auf Ihre Heiligkeit und Ihre Leistung, während, wenn Sie sie heimlich tun, dies zur Ehre Gottes geschieht.

Wie wir es am Anfang sagten: Das gesamte christliche Leben ist durchwirkt von der Erneuerung in Christus. Obwohl dieses Neusein nicht unbedingt zutage tritt in ihrem Verhalten gegenüber dem Gesetz, denn Nicht-Christen können ja sicherlich auch gute, das Gesetz erfüllende Bürger sein, die sich in keiner Weise von Ihnen unterscheiden, so wird doch in Ihrem Verhalten zur Liebe das Fragezeichen auftauchen. Andere werden der Meinung sein, daß in Ihrem Verhalten etwas fehlt. Warum? Sie werden erwarten, daß Sie öffentlich tun, was Sie nur heimlich tun. Sowohl Muslime als auch Christen möchten Ihre guten Taten sehen. Sie möchten sagen: Bravo, hier ist ein guter Mann, ein wirklich religiöser Mann, ein Heiliger! - und nachdem sie Sie erkannt haben als einen der guten Leute, sind sie zufrieden und möchten in ihrer eigenen Lebensweise fortfahren, ohne sich stören zu lassen von Ihnen, Ihrer Heiligkeit und Ihrem Gott.

Also wenden wir uns zu den beiden parallelen Bibelstellen: Mt 6,1-4 richtet sich auf Gott; Mt 5, 13-16 richtet sich auf den Menschen; Vers 16 sagt: "Laßt Euer Licht leuchten vor den Menschen". Also kann die Bedeutung dieser beiden Abschnitte nicht genau dieselbe sein. Man muß erkennen, daß "Licht" und "gute Werke" nicht identisch sind; die beiden Worte meinen nicht dieselbe Sache. Man darf das nicht so lesen, daß der Eindruck entsteht, unsere guten Werke seien das Licht, das wir scheinen lassen sollten. Die Ermahnung besteht darin, daß man das Licht nicht unter einen Scheffel setzen soll, sondern es mit Absicht scheinen lassen soll. Und im Schein dieses Lichts kann man dann unsere Taten sehen.

Weil Jesus die endgültige und vollkommene Offenbarung Gottes ist, ist er auch das Licht, wie er selber auch gesagt hat: Ich bin das Licht der Welt; wer mir folgt, wird nicht wandern in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh. 8, 12).

Christus kann man nicht buchstäblich vor sich halten, weil er nicht in diesem Sinne in der Welt existiert. Aber die Kirche hat immerhin das apostolische Wort von ihm, das Zeugnis über ihn, das sie hochhalten kann. Das Licht ist also das Wort über Christus, das Zeugnis, das Evangelium, welches die Kirche scheinen läßt und das Gott, wenn es Ihm gefällt, benutzt, um Menschen zu Christus zu bringen. Und die guten Werke der Kirche müssen im Licht dieses Wortes gesehen und verstanden werden, dieses Evangeliums, das sie proklamiert und veröffentlicht. Das kann man im täglichen Leben sehen. Ein Mann, der zornig wird und einen anderen Mann tötet, wird Mörder genannt; ein Soldat, der in Kriegszeiten ein Dutzend Leute tötet, wird geehrt und Held genannt. Warum? Weil seine Tat im Licht der Vaterlandsliebe verstanden wird. Und nur ein Mann, der diese Anschauung von Vaterlandsliebe akzeptiert, wird seine Tat als Heldentat ansehen.

Das Licht also sind nicht einige gute Taten, die Sie tun können; das Licht ist das Wort, das Evangelium, das die Kirche über Jesus Christus hat: Er ist das Licht der Welt, die Offenbarung Gottes. Dieses Licht ist nicht eine Herausstellung Ihrer guten Taten; es ist nicht eine Herausstellung von Gottes großartiger, herrlicher Regel; es ist auch nicht eine Ausstellung des Modells einer erlösten Menschheit. Es ist überhaupt keine Ausstellung.

Es ist das Prinzip des Lichtes, sich der Finsternis entgegenzustellen. Johannes sagt von unserem Herrn, daß er kam, die Werke des Teufels zu zerstören (Joh 3,8); Paulus sagte, wir kämpfen gegen die Kräfte der Finsternis (Eph 6,12). Mit anderen Worten: So wie unser Herr, weil er das "Licht war zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel und ein Zeichen, dem widersprochen werden sollte" (Luk 2,34), so ist auch sein Leib, die Kirche, wenn sie ihr Licht scheinen läßt, in den großen übernatürlichen Kampf des Lichtes gegen die Finsternis einbezogen, in den Kampf der Wahrheit gegen die Falschheit des Guten, gegen das Böse, den Kampf Christi gegen den Teufel. Sie gehören zur Neuen Zeit, weil Sie eine neue Kreatur, verborgen in Christus, sind. In diesem neuen Zeitalter möchten Sie, als neue Kreatur in Christus, den Muslim mit dem Evangelium erreichen. Also werden Ihre Taten, soweit sie das Gesetz betreffen, ohne Tadel sein, so daß Ihr Verhalten Ihre Arbeit nicht hindert; Ihre Taten, soweit sie die Liebe betreffen, werden im Geheimen getan werden, so daß die Leute Christus sehen und nicht Sie; Ihre Taten, soweit sie das neue Zeitalter betreffen, werden darin bestehen, daß Sie vertrauensvoll das Licht des Evangeliums scheinen lassen, so daß die Werke des Teufels durch Christus zerstört werden; und während Sie das Licht scheinen lassen, werden Sie fröhlich das Kreuz tragen, das Sie zu tragen haben.